Virus, sawed out wooden objects, colorfully painted (1989 – 1990)

Virus

(lat. „Gift“, „Schleim“), das, Mz Viren: kleinstes (krankheitserregendes) Partikel, das
nur auf lebendem Gewebe gedeiht, keinen eigenen Stoffwechsel besitzt und sich nur in
lebenden Zellen vermehren kann, nachweisbar nur unter Elektronenmikroskop,
Ultrazentrifuge, serologisches Verfahren.

Die Welt ist krank. Sehr krank. Die Pharmaindustrie forscht für ihre Heilung. Das wäre eine Hoffnung, gäbe es nicht jene Virustypen, die auf keines der bekannten Gegenmittel reagieren, die sich nicht unter dem Mikroskop isolieren und irgendwann bekämpfen lassen. Alle tragen wir sie in uns, reichen sie weiter und genießen noch die Symptome ihres zerstörerischen Wirkens. Mögen sich süddeutsche Gerichte noch so echauffieren wegen des leichtfertigen Umgangs einiger Exemplare der Spezie Mensch mit dem Lustseuchenvirus – in Wahrheit sind die Mörder- und Königsviren, die Zombie- und Terrorviren mitten in uns. Und ganz im Gegensatz zu ihren Namens-vettern aus der Welt der natürlichen Bevölkerungswachstumshemmer sind die Erreger aus dem Kölner Atelier von Wolfgang Freund Kunstprodukte einer Zeitströmung:AUS DER BIOLOGISCHEN NORMALITÄTWIRD ZIVILISATORISCHE ABSURDITÄT:Da mag es den Betrachter kaum trösten, dass das Korruptionsvirus in freier Wildbahn nicht der aktenkundige Einzeller plus Erbinformation ist – der Millionenzeller Krankenkassenmafia hat uns fester im Würgegriff, als es irgendein Grippevirus je vermöchte.

Die Fortpflanzungsfähigkeit der Freundviren – Schwachpunkt der natürlichen Verwandten – ist enorm und nur durch die Zahl der potentiellen Opfer begrenzt. Vergleichsweise ungefährlich ist da der nationale Vertreter der Gattung Deutscheinheitsvirus. Die meisten der schrillen, bunten und ein wenig clownesken Koboldfiguren sind supranationaler, weltumspannender Art: Manche mit unendlich langen Tentakelarmen, andere mit globusverschlingenden Mehrfachgebissen. Der Widererkennungswert der kleinen Monster ist beträchtlich, förmlich fühlt man sie krauchen und kribbeln.Das eigentlich Bösartige an ihnen ist nicht, wie man vielleicht vermuten könnte, ihre Ausbreitungs- und Vermehrungslust.
„Gefahr erkannt – Gefahr gebannt“, müßten Aufklärungsgläubige solcher Herausforderung mit Fug und Recht entgegensetzen. Viel bedrohlicher ist ihre Eigenschaft für Leben, ja Lebenslust, für „Spaß an der Freud“ zu sorgen. Wer gönnt sich nicht in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen ein Gutmaß Alkviren – oder, je nach Emanzipationsstand – einen satten Schuß Pharmaviren? Zeitgeitkampfvireninfiziert taumelt ein psychosenerregerverseuchtes Viraopfer in Richtung T-Helferzelle im grünen Robin-Hood-Wams und ist doch nur ein treffliches Beispiel für ein Prachtexemplar des Zombievirus.Was will uns der Künstler sagen? Geschmacksprengende Arbeiten wir Vira und Menstruationsvirus („Das ist wohl kaum eine Hommage an die Frau“, klingt mir ein schockierter Betrachter in den Ohren), kontrastieren zu fast poetischen Bildobjekten wie dem Schizzovirus oder dem Terrorvirus. Grelle Farben und bewegte Comicformen „ziehen die Viren aus ihrer uns allen bekannten Nährlösung und führen die Erreger auf die tatsächliche Krankheitsursache Mensch zurück“. Visuell am Kragen gepackt verlieren die Todesboten ein wenig ihren Schrecken, werden zu erkennbaren Tätern im Opfergewand. Nicht, dass das Faktum ihrer materiellen Berührbarkeit für besseres Handling sorgen würde, aber dem emotional-mentalen Wertetod in die Augen zu schauen, heißt gleichzeitig das Grauen vor dem Unbekannten zu verlieren, Mut zur Grenzüberschreitung zurückzugewinnen.Weg vom monokausalen Erklärungsmuster“, heißt vielleicht eine der Botschaften von Wolfgang Freund. Eine andere hat selbsterkennenden Charakter: Was, wenn nicht ein Virus, läßt uns der Manie der Kunst frönen? Jochen Börst